Sommerzeit ist Heidelbeerzeit

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Auch wenn die Wetterkapriolen der letzten Wochen es nicht vermuten lassen, so reifen derzeit in der Tat gerade die Heidelbeeren in den heimischen Wäldern heran.
Und wer kennt sie nicht, die kleinen blauen Beeren aus dem Wald, die auf einem Mürbteigkuchen, als Beilage zu Süßspeisen oder als Wein verköstigt, ein wahrer Genuss sind?
Heidelbeeren, auch Blaubeeren genannt, gedeihen an kniehohen Heidesträuchern in der Buntsandsteinregion des Odenwaldes besonders gut. Hintergrund sind die nährstoffarmen und sauren Böden wo Kiefernnadeln, Falllaub und kleine Äste eine dicke Humusdecke auf den Böden bilden, welche das Regenwasser besonders gut speichert. Die Heidelbeersträucher lieben diesen sauren, kalkarmen Boden. Zusammen mit dem regenreichen und durchaus rauen Odenwaldklima bildet dieser schließlich optimale Bedingungen für ein gutes Gedeihen der Sträucher und somit auch für hohe Ernteerträge. Daher ist es auch kein Wunder, dass der Odenwald unter anderem auch für reichhaltige Erträge von Blaubeeren bekannt wurde und zur Erntezeit schon immer ganze Scharen von Frauen und Kindern in die Wälder lockte.
Uns Menschen ist das Sammeln von Pilzen und Beeren quasi in die Wiege gelegt. Um zu überleben, war der Mensch seit je her als Jäger und Sammler unterwegs. Für die langen Wintermonate bildeten vor allem getrocknete Pilze, Früchte und Beeren einen wesentlichen Beitrag zur Ernährung und waren ganz nebenbei auch noch die „Hausapotheke“ zur Heilung der unterschiedlichsten Leiden aber auch Lieferant wertvoller Vitamine.

Obwohl sich die menschlichen Nahrungsquellen mit der Zeit änderten, ist der Wald nach wie vor Produzent von Beeren, Gräsern, (Heil-)pflanzen, Pilzen, Fleisch oder Holz. In Kriegs- bzw. Notzeiten war er zudem schon immer der Schlüssel, um zu Überleben. Im hinteren Odenwald sprach man in den vorangegangenen Jahrhunderten gerne davon, dass die Menschen nur von den „3 B“, nämlich von Beeren, Besen und vom Betteln, leben würden.

Gerade in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg waren die Ernten der verschiedenen Beerenarten auch ein willkommenes Zubrot für zahlreiche Heimatvertriebene und bildeten auf diese Weise einen bescheidenen Beitrag zum Deutschen Wirtschaftswunder. Häufig genug steckten hinter diesen Pflückern auch Kriegsschicksale, wobei gerade diese Familien über Jahre hinweg auf diese Einnahmen angewiesen waren.

Für den hinteren Odenwald ist auch bekannt, dass die Bevölkerung aus den Regionen Mannheim und Heidelberg bis zur Bahnstation nach Kailbach fuhr und sich von hier aus zu Fuß in die umliegenden Wälder aufmachte. Da alleine durch die Anreise schon ein Teil des Tages verstrichen war, übernachteten viele der Pflücker im Wald. Am nächsten Tag ernteten sie dann weiter, bevor sie sich wieder auf den Heimweg begaben. Waldarbeiter fanden gerade in den Nachkriegsjahren die Überreste ihrer Behausungen und Lagerfeuer in den beerenreichen Wäldern. Auch diese Sammler machten anschließend ihre Erträge in der Stadt zu Geld oder sterilisierten sie für den Winter ein. Dies galt neben den beschriebenen Heidelbeeren auch für Himbeeren, Brombeeren und seltener auch Walderdbeeren.

Somit war den verschiedenen Beerenarten in vergangener Zeit ein besonderer Stellenwert in der Nahrungskette zuzuordnen und bedeutete nebenbei auch noch die erwähnte finanzielle Einnahmequelle.

Während der Heidelbeererntezeit war richtig was los in den hiesigen Wäldern. Nicht nur das Sammeln von Beeren sondern auch überlieferte Bräuche und Rituale, die in den Odenwaldregionen ganz unterschiedlich praktiziert wurden, prägten das Bild und sollten natürlich die Erträge hierbei noch zusätzlich steigern. So wurden einzelne herabgefallene Beeren dem Wald überlassen oder die ersten drei Beeren früh morgens über die Schulter geworfen, um an dieser Stelle nur einige der „beerenvermehrenden“ Bräuche zu nennen. Ein Kinderreim aus jener Zeit zeigt auf, wie es zu früherer Zeit in den Wäldern zuging:

„Heidelbeerleut´ sen fröhliche Leut´,
sieht man sie net, dann hört man sie weit!“

Eine weitere Überlieferung aus dem hessischen Odenwald sagt, dass die Ernten nach dem 25. Juli keine großen Erträge mehr einbringen. Unter dem Einfluss des milden Klimas der nahen Rheinebene, endete mit diesem Tag offiziell die Heidelbeerernte im hessischen Teil des Odenwaldes. Im badischen Teil hingegen, mit seinem rauheren Klima, wurden auch noch Mitte August gute Erträge erzielt. Noch bis in die 1950er Jahre wurde zur Ernte früh morgens in den Wald marschiert. Unter den Pflückerinnen herrschte ein echter Konkurrenzkampf um die guten Ernteplätze, so dass die Gruppen jeweils bemüht waren gerade an diesen Plätzen zu ernten. Es waren vor allem die Frauen und Kinder, die sich an einem der guten Plätze trafen, wo sie ihr Lager für den Tag errichteten. – „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst!“ – war im Streitfall gerne unter den einzelnen Pflückergruppen zu vernehmen, um so vor Ort für „klare Verhältnisse“ zu sorgen. Damit es keinen Streit unter den Dörfern gab, respektierten die Pflückerinnen allerdings bei der „Platzwahl“ in der Regel auch die Gemarkungsgrenzen. Es kam aber auch vor, dass Personen von Plätzen verwiesen wurden die sich nicht daran hielten oder die Grenzen möglicherweise gar nicht kannten. Die Männer hingegen verrichteten über den Tag die Feldarbeit. Sie beteiligten sich normalerweise nur dann an der Ernte, wenn es auf dem Feld gerade nichts zu tun gab.

Die Beeren wurden in kleinen Milchkannen oder kleinen Eimern gesammelt, welche in der Regel mit einem Gürtel vor den Bauch geschnallt waren. Volle Kannen wurden in sogenannte „Mannen“ (Tragekörbe aus Weidegeflecht) oder auch in größere, ausgediente Milchkannen umgefüllt. Zu früherer Zeit trugen die Hausfrauen die vollen Körbe auf dem Kopf nach Hause. Hierzu wurde ein Wisch (oder auch Kitz) auf den Kopf gelegt, um den Druck der Manne zu verringern und so das Tragen zu erleichtern. Zu späterer Zeit erfolgte der Abtransport dann elegant mit dem Auto.

Versierte Frauen nutzten zum Sammeln der Beeren gerne eine Art Kamm, ein sog. Reff. Man streifte die Beeren damit in einen Kasten und hatte somit eine höhere Ausbeute, allerdings auch mehr Blätter, kleine Zweige und unreife Beeren im Ertrag. Häufig wurde die Ernte daher im Nachgang nochmals verlesen.

Zurück aus dem Wald wurde dann entschieden welcher Teil frisch verzehrt wird, wie viele der Beeren eingekocht werden, was ggf. zu Wein verarbeitet wird aber vor allem, welcher Anteil gleich wieder verkauft wird. Das Einfrieren der Beeren kam hingegen erst in den 1950er Jahren auf. Über die gesamte Erntezeit wurde von den „Profis“ nur der geringste Teil selbst verbraucht. Die meisten Beeren wurden bei den vereinbarten Annahmestellen in den Dörfern abgegeben. Dort wurde dann die Ernte gewogen und entsprechend dem Tagespreis das Geld gleich ausbezahlt. Für gepflückte Beeren gab es normalerweise mehr Geld als für gereffte Beeren mit Verunreinigungen. Interessant ist, dass während der Weltwirtschaftskrise der 1920er Jahre, die Preise von Woche zu Woche teils um 100% schwankten. Es sei zudem angemerkt, dass ein dreiviertel Liter gleichzusetzen ist mit einem Gewicht von einem Pfund (500 Gramm) Beeren. Somit konnte bereits im Wald kalkuliert werden, wieviel man heute verdienen wird. Die eigentlichen Händler fuhren dann wiederum die Sammelstellen an und vermarkteten die Beeren anschließend an ihre Kundschaft auf Wochenmärkten oder in den Städten. Nach Aufzeichnungen von Ladelisten der Odenwaldeisenbahn, wurde in manchen Jahren mehr als eine Tonne Heidelbeeren vom Nebenbahnhof Kailbach, mit Ziel Frankfurt bzw. Mannheim, verladen und dies waren nur die Überschüsse der Händler. Die Hauptmenge einer Jahresernte fand jedoch wie beschrieben auf anderen Wegen ihre Abnehmer. In größeren Dörfern, wie z.B. in Limbach, gab es zudem einmal im Jahr einen Heidelbeermarkt, wo die Hausfrauen ihre Ernteerträge mit besseren Erlösen direkt vermarkten konnten.

Denken wir heute an die alljährlichen Sommerferien, dann sind diese unter den Bundesländern abgestimmt, damit für die großen Ferienregionen eine möglichst hohe und gleichmäßige Auslastung möglich ist. In vergangener Zeit wurden die Ferien allerdings eher „nach Bedarf“ gelegt. Es standen andere, vor allem landwirtschaftliche Gesichtspunkte im Vordergrund. So gab es Ferien zum Kartoffelkäfer lesen, zur Heuernte aber auch zur Beeren- und Kartoffelernte, denn Kinder waren hierbei ein nicht unwesentlicher Wirtschaftsfaktor.

Gerade in der Heidelbeerzeit waren die Schulen mit „Ferien“ auf die Zeit der Ernte eingestellt. Je nach Wetterlage wurden diese kurzfristig festgelegt, denn Kinder waren für diese einfache Tätigkeit, wie erwähnt, wertvolle Helfer. Auf diese Weise konnten sie erstes Geld verdienen, sofern sie dieses behalten durften. In den Dörfern wurden sogar die Vereinsfeste nach der Heidelbeerernte gelegt, denn dann hatten die Familien Geld in der Tasche. Doch der größte Anteil der Einnahmen wurde gespart. Junge Frauen erwirtschafteten auf diese Weise ihre Aussteuer, Hausfrauen investierten in die Familie und durch organisierte Sammelaktionen, wurden in den Dörfern sogar größere Vorhaben realisiert:

So wurde 1954 in Donebach mit Heidelbeerverkäufen nahezu eine komplette Kirchenglocke finanziert. Im hessischen Kailbach wurde zwischen 1947 und 1957 durch Heidelbeerernten der Schüler, Schulausflüge organisiert und die Inneneinrichtung des Klassensaals modernisiert.

Die Zeit der großen Heidelbeerernten endete schließlich zu Beginn der 1990er Jahre. Damals sorgte der Fuchsbandwurm als Krankheitserreger für einen schlechten Ruf der Beeren in Zusammenhang mit Ernten aus hiesigen Wäldern. Zudem wurde erkannt, dass Krankheiten, die von Zecken übertragen werden, lebensbedrohlich sein können. Diese Negativschlagzeilen verängstigten zunehmend die Pflücker, so dass sich viele Menschen zwischenzeitlich gar nicht mehr in die Wälder trauen. Des Weiteren wurde In Verbindung mit der Tschernobylkatastrophe auf die Gefahr strahlenverseuchter Waldprodukte hingewiesen, so dass diese niemand mehr haben wollte. Auch sorgen zwischenzeitlich moderne Waldmaschinen für großflächige Schäden auf den Böden der Wälder, welche das Heidekraut für Jahre zerstören und das Pflücken nach bewährter Weise unwirtschaftlich machen. Andererseits wurde es aber auch immer schwieriger die Beeren mit Gewinn zu vermarkten, denn großflächige Plantagen im Ausland verdrängten mit ihren niedrigen Preisen allmählich die Sammelstellen auf den Dörfern und den Handel mit dem „blauen Gold aus dem Odenwald“, so dass heutzutage, wenn überhaupt, nur noch für den Eigenbedarf geerntet wird.

Thomas Müller, Schloßau 2017

Quellen:

- Mündliche Überlieferungen aus Schloßau
- Archiv von Bruno Trunk
- Bruno Trunk, Schloßau - ein Höhendorf im Odenwald

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